Die Kirche im Dorf

Die Kirche wird heute in der Theologie als gastfreundliche Herberge gesehen. Gibt es Berührungspunkte zwischen Kirche und Tourismus? avegnir Vuorz hat mit Ivan Walther-Tschudi, reformierter Pfarrer in Waltensburg/Vuorz, gesprochen.

avegnir Vuorz: Gibt es Touristinnen und Touristen, die in Waltensburg/Vuorz in die Kirche gehen?
Ivan Walther-Tschudi: Es gibt ab und zu Touristen im Gottesdienst. Ich mache auch Führungen durch die Kirche. Da kommen regelmässig Leute. Zudem ist die Kirche jeden Tag offen; sie wird sehr häufig besucht.

avegnir Vuorz: Diese Leute kommen wegen des Waltensburger Meisters?
Ivan Walther-Tschudi: Es gibt zwei Gruppen. Die einen kommen wegen des Waltensburger Meisters beziehungsweise wegen der kunsthistorischen Bedeutung der Kirche. Eine zweite Gruppe kommt wegen der Stille, geht für einen Moment des Rückzuges in die Kirche. Es gibt also eine kulturell und eine spirituell orientierte Gruppe. Die Kirche ist allerdings immer noch ein Geheimtipp, etwa im Vergleich mit Zillis. Da liesse sich noch sehr viel machen.

avegnir Vuorz: In welche Richtung könnte das gehen?
Ivan Walther-Tschudi: Welches Dorf kann von sich behaupten, einen Meister einer künstlerischen Periode zu haben, der den Namen des Dorfes trägt? Er hat ja nicht nur hier gemalt, sondern an etwa 15 weiteren Orten in Graubünden. Dieter Matti, ein pensionierter Pfarrer, macht Kunstwanderwochen im In- und Ausland. Im Sommer kommt er viermal nach Waltensburg/Vuorz und macht für Touristen und Einheimische Führungen mit Wort, Bild und Musik. Er kennt nicht nur die Kirche von Waltensburg/Vuorz, sondern die gesamte Kunstgeschichte.Der Bündner Jakobsweg von Müstair nach Disentis kommt an der Kirche vorbei. Es gibt immer wieder Gruppen, die wollen für sich in der Kirche singen. Potenzial ist also vorhanden, aber es ist eine Frage der Ressourcen. Ich bin hier alleine Pfarrer mit sehr umfangreichen Aufgaben. Mit einer 70%-Anstellung ist da nicht mehr viel möglich. Ich denke, es muss aber in diese Richtung gehen, auch für das Dorf. Die Bündner Landeskirche ist nämlich daran, sich eine neue Verfassung zu geben. Der Vorschlag sieht grössere Kirchgemeinden vor. Damit ein Pfarramt weiterhin in Waltensburg/Vuorz bleibt, muss nachgewiesen werden, dass dies notwendig und sinnvoll ist. Da können Angebote wie Führungen, Konzertreihen oder beispielsweise Trauungen für Auswärtige helfen, dies zu begründen.

avegnir Vuorz: Wie siehst du eine Realisierung?
Ivan Walther-Tschudi: Ich denke, es muss langsam wachsen. Kleine Sachen haben wir schon begonnen, wie das Gästebuch oder die Webseite. Die Kunstkarten sind vergriffen, da wollen wir neue machen. Schön ist auch, wenn etwas entsteht wie jetzt im Sommer das Mittelalterfest. Das Mittelalter ist ein Thema fürs Dorf, das man pflegen muss. Dieser Sommer ist ein erster Anfang, auch mit dem Gottesdienst, den wir mit der Gruppe machen. Ich habe auch schon Konzerte organisiert in den vergangenen Jahren, die teils gut besucht waren. Es ist schon eine besondere Atmosphäre in der Kirche. Ich kann mir auch vorstellen, dass nicht der Pfarrer alles machen muss, sondern dass sich eine Gruppe bildet von Leuten, die Ideen haben und die sich engagieren wollen.

avegnir Vuorz: Könnte auch ein Veranstalter von ausserhalb in der Kirche etwas machen?
Ivan Walther-Tschudi: Ja, wir haben Richtlinien für die Benutzung der Kirche. Für die Entscheidungen ist der Kirchgemeindevorstand zuständig.

avegnir Vuorz: Was ist Religiosität und wo beginnt die Folklore?
Ivan Walther-Tschudi: Es muss glaubwürdig bleiben. Wichtig soll der Inhalt sein. Wenn sich zum Beispiel jemand von auswärts hier trauen lässt, geht es bestimmt auch um die Ausstrahlung der Kirche. Mir ist jedoch wichtig, warum sich das Paar kirchlich trauen lässt. Der spirituelle Aspekt muss vorhanden sein, damit es stimmt. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist es nur noch Theater.

avegnir Vuorz: Kann es nicht auch zu viel werden?
Ivan Walther-Tschudi: Wir waren letzten Herbst in Zillis. Da bin ich schon etwas erschrocken, wegen dem zu bezahlenden Eintritt in die Kirche und den Souvenirshops. Das ist übertrieben. Andererseits verdienen die Menschen dort etwas, während es in Waltensburg/Vuorz nicht einmal Kunstkarten gibt.

avegnir Vuorz: Wie siehst du die Kirche im Zusammenhang mit der Entwicklung der Gemeinde Waltensburg/Vuorz?
Ivan Walther-Tschudi: Die Entwicklung des Dorfes kann nicht an der Kirche vorbeigehen, denn die Kirche gibt dem Dorf einen wesentlichen Teil seines Charakters und seiner Geschichte. Die Identität als reformierte Enklave in der Surselva ist wesentlich für Waltensburg/Vuorz. Kirche, Natur und Mittelalter sind meines Erachtens die drei wesentlichen Elemente von Waltensburg/Vuorz, die man pflegen muss.

avegnir Vuorz: Wie ich sehe, bist du beim Thema Kirche und Tourismus zwar vorsichtig, hast aber keine Berührungsängste.
Ivan Walther-Tschudi: Ich denke, die reformierte Kirche muss offen bleiben und mit anderen zusammen spannen. Ich habe zum Beispiel mit der Vorstellung eines Konzertes mit moderner komponierter Musik oder mit Jazz in der Kirche keine Mühe. Aber letztlich entscheidet die Kirchgemeinde, was sie akzeptieren will.

avegnir Vuorz: Besten Dank für das Interview.

(Interview geführt am 8. Juni 2011)


Die Kirche von Waltensburg/Vuorz

Erbaut wurde die Kirche Ende des 11. Jahrhunderts. Ihre Schutzpatrone sind die heiligen Desiderius und Leodegar.

Waltensburg/Vuorz nahm als einzige Gemeinde der Umgebung schon früh, etwa 1527, die Reformation an und bildet somit konfessionell gesehen eine kleine Enklave.

Was die Kirche von Waltensburg/Vuorz sehr kostbar und sehenswürdig macht, sind die Wandmalereien. Es sind gesamthaft Bilder aus vier verschiedenen Zeiten vorhanden. Am bekanntesten sind die Malerein des Waltensburger Meisters aus der Zeit um 1330.

aus: Kunstführer - Evangelische Kirche Waltensburg/Vuorz. 1994. zu beziehen in der Kirche